Lernen am Rand der bewohnbaren Welt

1925 - vor 75 Jahren also - begann auf der Nordseeinsel Juist mit der Eröffnung der ,,Schule am Meer" durch Martin Luserke eines der interessantesten deutschen reformpädagogischen Experimente. Leider bestand das Gymnasium nur zehn Jahre. 1934 musste es aufgrund politischer und wirtschaftlicher Schwierigkeiten seine Pforten wieder schließen. Es ist aber trotzdem lohnend, dem Schulversuch einige reflektierende Gedanken zu widmen, zumal Teile des pädagogischen Konzeptes des Schulgründers auch heute noch lebendig sind. Als integrierter Bestandteil des Programms der Jugendbildungsstätte Theodor Wuppermann e. V. haben sie sogar den Weg zurück nach Juist gefunden.

Ein Bericht von Hans Kolde.


Die deutsche Reformpädagogik

Was bedeutet Reformpädagogik? Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert regten sich überall in Deutschland Kräfte, die mit den herrschenden Zuständen in unterschiedlichen Bereichen nicht mehr einverstanden waren. Hieraus entstanden zahlreiche Änderungsbestrebungen, ,, Bewegungen" genannt, die man als eine Dynamik gleicher Gesinnungen, Überzeugungen und Willensrichtungen bezeichnen kann. Beispiele hierfür sind die Jugend-, Frauen-, Volksbildungs- und sozialpädagogische Bewegung.

Auf pädagogischem Gebiet war diese Dynamik besonders ausgeprägt und hatte vielfältige Strömungen, zum Beispiel Arbeitsschul-, Kunsterziehungs- und Landschulheimbewegung. Daraus entstand ein ungemein pluralistisches Gedankensystem, in dem es trotz mancher konträrer Aspekte viele gemeinsame Grundpositionen gab, zum Beispiel die Kritik am alten Erziehungs und Bildungssystem, eine neue Bewertung von Kindheit und Jugend, die Neugestaltung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses sowie die Veränderung von Erziehungs- und Unterrichtsformen und -methoden.

Die unflexible Administration des Kaiserreiches ließ jedoch eine flächendeckende Reform des Schulsystems nicht zu. So wurden neue Schulgründungen nach englischem Muster - Landerziehungsheime genannt - zum Vorreiter der reformpädagogischen Bestrebungen. Meist in ländlichen Gebieten gelegen und von einer freien Trägerschaft betrieben, wollten sie die Unterrichtung und Erziehung junger Menschen im Sinne sozialen Lernens integrieren.
 

Landerziehungsheime

Das erste deutsche Landerziehungsheim gründete Hermann Lietz 1898. Diese Schule verlegte 1928 einen Zweig nach Spiekeroog, der heute noch existiert. Paul Geheeb und Gustav Wyneken riefen 1906 unter dem Einfluss der Jugendbewegung die Freie Schulgemeinde Wickersdorf ins Leben. Diese und die 1910 von Paul Geheeb geschaffene Odenwaldschule, die beide die Prinzipien der Schülermitverwaltung und -verantwortung sowie die Gemeinschaftserziehung verwirklichten, wurden vorbildlich für die Gründung weiterer Einrichtungen. Außer der ,,Schule am Meer" - kurz SaM genannt - auf Juist entstand die Schule Schloss Salem sowie das Landerziehungsheim Birklehof.

In der Freien Schulgemeinde Wickersdorf war seit 1906 neben Wyneken und Geheeb auch Martin Luserke als Lehrer tätig. Seine vielseitigen Interessen und Begabungen im künstlerischen, geistigen, sportlichen, handwerklichen und musischen Bereich machten ihn zu einer charismatischen Persönlichkeit. Auf seine Initiative wurde zum Beispiel das Theaterspiel in den Wickersdorfer Lehrplan integriert. 1910 übernahm Luserke die Leitung der Wickersdorfer Schule, die er - mit Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg - bis 1924 inne hatte.
 

Die Gründung der Schule am Meer

Zunehmende Spannungen zwischen ihm und Wyneken, der sich trotz Amtsentlassung durch die Behörde immer wieder in den pädagogischen Betrieb einmischte, ließen bei Luserke und einigen anderen Kolleginnen und Kollegen den Entschluss reifen, eine eigene Schule zu gründen. Die Vorstellung war, hierfür einen Aufbruch ,,an den Rand der bewohnbaren Welt" zu wagen, und so geriet die Insel Juist in das Blickfeld der Pädagogen.

Luserke war bereits beim ersten Besuch 1924 fasziniert vom schmalen, tideabhängigen, kargen Eiland, das voll den Vorstellungen von einer ,,Landnahme" für seine Schule entsprach. Durch glückliche Umstände konnte im Ortsteil Loog ein abgewirtschaftetes Gasthaus samt Grundstück erworben werden. Nach dessen Umbau und der Neuerrichtung weiterer Häuser für Schüler- und Lehrerwohnungen, Klassen-, Sanitär-, Wirtschafts- und Freizeiträume erteilte das Preußische Staatsministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung am 29. Januar 1925 die Genehmigung zur Aufnahme des Schulbetriebs.











Die Schule am Meerim Jahre 1928


Die erforderlichen Finanzierungsmittel für die Erstinvestitionen erbrachte das Pädagogenteam, das aus den Ehepaaren Annemarie und Martin Luserke, Helene und Rudolf Aeschlimann, Anni und Dr. Paul Reiner, Christel und Fritz Hafner sowie Marle Franke bestand, durch Opferung sämtlicher Eigenmittel, durch großzügige Stiftungen von Schülereltern sowie durch Kreditaufnahmen.

Ostern 1925 wurde die Schule offiziell eröffnet. Aus dem anfangs sechs Lehrer umfassenden Kreis entwickelte sich später ein Kollegium von durchschnittlich 15 Personen. Die Schülerzahl wuchs im Laufe der Zeit auf etwa 80 an, wobei der Mädchenanteil ein Viertel bis ein Drittel der Gesamtzahl ausmachte.
 

Die pädagogische Konzeption

Es würde den Rahmen dieses Berichtes sprengen, wenn man die pädagogische Konzeption der SaM in allen Einzelheiten darstellen wollte. Wohl aber können einige Schwerpunkte deutlich gemacht werden, die diesem Schulversuch den Charakter des Einmaligen, Besonderen verliehen.

An erster Stelle stand die Bedeutung der Natur für den gesamten Lebensrhythmus in der Schule. Intensive Mitarbeit von Lehrern und Schülern beim Bau und der Instandhaltung der Schulanlage, bei der Sicherung der Grundstücke gegen Wind und Wasser und dem Schutz der Dünen war ein weiterer Bereich.








Das Schulorchesterunter der Leitung von Eduard Zuckmayer

Theater und Musik bildeten umfangreiche und feste Bestandteile des Lehrplans. Ebenso Seminare, in denen man sich intensiv mit Fragen von Politik und Kultur beschäftigte. Im Zusammenleben von Lehrern und Schülern hatten die ,, Kameradschaften" einen besonderen Stellenwert. Jeweils zehn Schülerinnen und Schüler schlossen sich mit einem Lehrer zu solch einer Gruppierung zusammen.

 
Lernen in Kleingruppen war einerevolutionäre Abkehr von den üblichenUnterrichtsformen.


Sport, insbesondere Segeln, mit zum Teil selbstgebauten Booten spielte eine herausragende Rolle. Und nicht zu vergessen die regelmäßigen Treffen von Lehrern und Schülern, bei denen in demokratischer Offenheit Probleme unterschiedlicher Art diskutiert und Beschlüsse zu deren Lösung gefasst wurden.












Segeln mit zum Teil selbst gebauten Bootenstärkte die Teamfähigkeitder Schüler.

Das übergeordnete Bildungsziel der SaM war, neben der Vermittlung des für die Erlangung der  Hochschulreife erforderlichen Wissens die umfangreiche Persönlichkeitsbildung junger Menschen  und ihre Vorbereitung auf spätere Aufgaben in Staat und Gesellschaft.


Der Schulalltag

Die Wohn- und Schlafräumeder Schule am Meer waren zwar gemütlich,aber von spartanischer Einfachheit.


Wie sah nun ein Schulalltag aus der Perspektive eines Schülers aus? In einer Schilderung liest es  sich so: ,,Das Wecken vollzog sich allmorgendlich, indem ,Lu'(Luserke) mit einer ,Flüstertüte' durch die Schülerhäuser lief und nach alter Seefahrermanier sein ,Rise, rise' aussang. Aus der Tonart konnten Geübte bereits Schlüsse auf das herrschende Wetter ziehen. Anschließend traf man sich zur Morgengymnastik in den Dünen oder - bei entsprechender Wetterlage und Jahreszeit - zum Bad in der Nordsee. Das Frühstück leitete der Musiklehrer Eduard Zuckmayer, ein Bruder des bekannten Schriftstellers, meist mit einem Cembalo-Spiel ein. Bachs ,Wohltemperiertes Klavier' wurde uns allen zu einem festen Begriff. Nach dem Frühstück begann ein vierstündiger Unterricht, unterbrochen durch das ,Reinschiff', bei dem Haus und Zimmer in Ordnung gebracht werden mussten.

Um 13 Uhr gab es einen Lunch nach englischem Vorbild, und daran an schloß sich eine ,Stille-Zeit'. Von 14 bis 17 Uhr fanden praktische Übungen statt (Sport, Zeichnen, Werken, Orchester-und Theaterproben u. a. m.). Regelmäßig waren während dieser Zeit auch Arbeiten zum Ausbau und Unterhalt der Schule zu leisten, wobei die Sicherung des Geländes und der angrenzenden Dünen einen breiten Raum einnahmen.

Die Zeit von 17.30 bis 19 Uhr gehörte den Schularbeiten. Das Abendessen um 19 Uhr nahm ungefähr eine Stunde in Anspruch, woran sich dann verschiedene Tätigkeiten bis zur Bettzeit anschlossen. Diese war gestaffelt und bis spätestens 22 Uhr für die Oberstufe. Mindestens einmal im Monat fand eine ,Schulgemeinde' statt, bei der sämtliche Lehrer und Schüler alle wichtigen Probleme unter allgemeiner Gleichberechtigung besprachen."
 

Der "Hallenbau"

1928 war die Schulanlage im Wesentlichen ausgebaut. Man hatte durch rechtwinklige Anschlüsse an das Ausgangsgebäude eine Art geschützten Innenhof geschaffen. Abseits davon waren Lehrerhaus und Klassentrakt entstanden, der unter anderem das selbsterbaute, sehenswerte Seewasseraquarium beherbergte.


LebensnaherBiologie-Unterricht am Seewasser-Aquarium.





Aber die finanzielle Situation war nach wie vor angespannt, da es keine Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln gab. So arbeiteten die Lehrkräfte immer noch für einen Bruchteil des Gehaltes, das ihnen eigentlich zustand.

Besonders einschneidend in das Schulleben wirkte ab 1930 der so genannte Hallenbau, ein Theater zur Aufführung der in der SaM erarbeiteten und inszenierten Stücke, sowie zur Ausbildung von Laienspiel-Pädagogen für ganz Deutschland. Das Bauwerk wurde 1931 eingeweiht.
 
Tätige Mithilfe beim Auf- und Ausbauder Schule am Meer.

Um diese Zeit zog Luserke während der Ferien regelmäßig mit seiner Spielschar durch Deutschland und erhielt besonders für seine Shakespeare-Aufführungen in Berlin und Stuttgart   begeisterte Kritiken.

Aufgrund der Wirtschaftskrise, die ab 1929 ganz Europa erfasste und in Deutschland zu einer immer stärkeren politischen Radikalisierung führte, kam es auch in der SaM zu ideologischen Spannungen. 1932 verließ eine Reihe von Lehrern die Schule. Bald darauf erfolgte die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Deutschland. Damit war die Schule am Meer, für die Autonomie von staatlicher Bevormundung existentielle Bedeutung hatte, aufs Außerste gefährdet.

Das erwies sich auch recht schnell durch Angriffe in der NS-Presse auf die Landerziehungsheimbewegung. An der SaM wurden die jüdischen Mitschüler und Lehrer durch eine Hitlerjugendgruppe und durch nationalsozialistische Juister Gemeindepolitiker diskriminiert. ,,Jöödenschool" nannte man die Einrichtung.

Das war der Anlass für viele jüdische Eltern, die zu den maßgeblichen Förderern der SaM gehörten, ihre Kinder nach Hause zu holen. Viele Familien bereiteten damals bereits ihre Ausreise aus Deutschland vor.

Dieser - auch materielle - Aderlass verband sich mit der allgemeinen Krisensituation jener Zeit, was zu einer Zerstörung des wirtschaftlichen Unterbaus der Einrichtung führte.

1934, im zehnten Jahr ihres Bestehens, löste Martin Luserke die Schule auf und verließ die Insel.

Die Gebäude und Anlagen werden heute von der Jugendherberge und dem Küstenmuseum genutzt. Dort soll in Kürze ein Dokumentationszentrum über die Schule am Meer eingerichtet werden.

Martin Luserke starb 1968. Seine letzte Ruhestätte fand er neben seiner Frau auf dem Friedhof in Hage.
 


Dieses Feature von Hans Kolde ist erschienen im "Ostfriesland Magazin" 9/2000.
Unsere Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

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