GEHEIMREPORT

Schultyrann mit Phantasie

Der Pädagoge Martin Luserke / Von Carl Zuckmayer

Er kam von der Bewegung der "Freien Schulgemeinde", war einer der begabtesten und eigenwilligsten Leute im ehemaligen wickersdorfer Wynecken-Kreis, gründete ums Jahr 1922 oder 1923 die "Schule am Meer" Juist, die er - als progressives Landschulheim - bis Anfang 1934 leitete, um sie dann im Zug der Nazientwicklung selbst aufzulösen und der Partei als "Führerschule" zu überlassen. Er war im wesentlichen Pädagoge, aber seine Versuche mit der Belebung des Laienspiels, des Schultheaters, der legendenhaften oder "mythischen" Jugenderzählung geben ihm eine gewisse Bedeutung. Soviel ich weiß hat er unterm Hitlerregime nicht mehr als Schulleiter und Pädagoge gewirkt, mindestens nicht bis 1938, sondern sich ganz auf Schriftstellerei konzentriert, und zwar in einer Tonart die dem Rosenbergkreis verwandt erscheinen muß: er bekam einige Naziliteraturpreise und hatte auch zeitweise eine Stellung in der Reichsschrifttumskammer. Seine Fähigkeit und sein Niveau machen es notwendig sich mit ihm etwas näher zu befassen, denn er ist - im Gegensatz zu solchen in Gruppe 3 erwähnten Persönlichkeiten wie die Wigman oder Niedecken - nicht ungefährlich, zumal er einen starken Einfluß auf junge Menschen haben kann.

Luserke ist eine höchst merkwürdige Mischung aus einem kleinen, etwas verrückten Schultyrannen und einem künstlerischen Menschen von beträchtlicher Phantasie. Auch diese Mischung ist nicht ungefährlich. Seine Schulführung neigte immer zur autoritären Form, ja zur Diktatur, auch wenn dort an sich demokratische Gepflogenheiten herrschten: denn was er ausübte war nicht die Diktatur des Rohrstocks oder des Exerzierreglements, sondern der persönlichen Faszination, der fast ans Unerlaubte grenzenden Beeinflussung. Seine Schulgemeinde, kulturell auf dem deutschen Höchstniveau, hatte in ihrer Haltung Hitlerjugendzüge (wovon man sich hierzuland <in den USA, d.Red.> auch eine falsche Vorstellung macht, denn die Hitlerjugend hat neben ihrer militärischen und aggressiven Tendenz die Elemente aller freien Jugendbewegungen Deutschlands in sich aufgesogen und verarbeitet, und hat eine für heranwachsende Kinder faszinierende und fanatisierende "revolutionäre", "antibürgerliche" Haltung. Mit Drill, Zwang und Gewalt allein hätte sie sich nicht diese fast religiös ergebene Jüngerschaft erzogen).

Ähnliches galt für Luserke's Schulgemeinde in den Dünen von Juist, nur daß dort eben nicht Hitler und die deutsche Weltherrschaft, sondern "Lu" (als mythischer Häuptling) und seine "Seehunde" oder "Robben" (wie sich die Kameradschaften der Schüler dort nannten) den göttlichen Inhalt und Mittelpunkt der Welt bedeuteten. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß seine "Juister" in noch höherem Maß als es häufig bei den Zöglingen der Landschulheime der Fall war, dort innerlich ganz festgelegt und aufgesogen wurden, in einem Grad der ihnen später den Kontakt und die Bewährung in der Welt außerhalb Juist's sehr schwer machte.

Auch in Lu's "Neuheidentum" (er hätte es nicht so genannt), das sich in der Neigung zu rituellem Religionsersatz, kultischen Tauchbädern im Meer, Verehrung der aufgehenden Gestirne usw, fixierte, - sowie in seiner Auffassung von Gruppen-Ethik und ihren Auswüchsen, den "Mutproben" usw, - steckte schon viel Verwandtschaft mit Nazitum, durch geistige Zucht und humanistische (keineswegs humane!) Gesinnung modifiziert. Seine eignen Werke, besonders seine Zeltgeschichten, die er für seine Schüler schrieb, auch Stücke, die er von ihnen aufführen ließ, immer mit märchen- und legendenhaften Themen, sind voll von mythischer Dämonen- und Heroenvisionen, dabei stets etwas künstlich, krampfig, ungewollt schulmeisterlich, und maßlos egozentrisch.

Im Artistischen, besonders Theatralischen, ist er enorm begabt. Es gibt von ihm ein Werk "Shakespeare als Bewegungsspiel", das außerordentlich anregende und bemerkenswerte - dabei sehr unkonventionelle - Anschauungen über Regie und Inszenierung enthält, - und seine Aufführungen hatten einen ganz eigenartigen, halb ekstatisch- rhythmischen, halb naiv-lebendigen Charakter. In seiner ebenso genialischen wie eigenbrödlerisch-spintisierenden Art, naturtrunken, chaotisch und doktrinär zugleich, spiegelt sich in besonderer Weise jene Amalgamierung aus geistiger Helle und trüber, nebliger Seelendumpfheit, auch aus hohem Ethos und böser Instinktverfallenheit, die das deutsche Wesen oft so verworren und unverständlich erscheinen lassen (jene Zusammensetzung die im Fall des großen Genies einen Kleist oder Nietzsche, in tieferer oder tiefster Region einen Hitler oder Julius Streicher erschaffen mag).

Bei Luserke handelt es sich um eine Mittelregion, die umso gefährlicher ist weil sie den schöpferischen Drang und das "Führertum" in ihm nur halb erfüllt und zutiefst unbefriedigt läßt. Ich halte deshalb - aus dieser Zusammensetzung und dieser dualistischen Leidenschaftlichkeit heraus - nicht etwa, weil er mit den Nazis seinen Frieden machte und bei ihnen Anerkennung fand, - Luserke für bedenklich als deutschen Jugenderzieher, als der er vielleicht in einem Nachhitlerdeutschland wieder auf den Plan treten könnte. Ich möchte aber hinzufügen, daß mir selbst seine Person, schon sein Aussehen zwischen einem dämonischen Professor Unrat und einem zweiten Steuermann der Handelsmarine, immer geradezu körperlich antipathisch war und daß diese Schilderung vielleicht nicht ganz objektiv ist. Ich versuchte sie so sachlich wie möglich zu gestalten, und muß doch noch sagen, daß ich als Vater ihm nie ein Kind anvertrauen würde.

Carl Zuckmayer schrieb sein Dossier über deutsche Künstler und Intellektuelle 1943/44 im Exil für den amerikanischen Geheimdienst. Zuckmayers Bruder Eduard hatte 1925 Luserkes Schule besucht und war dort bis zu ihrer Schließung im Jahr 1934 als Musikpädagoge tätig.

Als Vorabdruck erschienen am 14.2.2002 in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung"
Der vollständige Text wird im April 2002 im Göttinger Wallstein Verlag erscheinen.

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